Von der wilden Architektur
Bekanntlich wollten die Situationisten für den Anfang nichts Geringeres als ganze Städte errichten, eine Umgebung, die der uneingeschränkten Entfaltung neuer Leidenschaften genügt hätte. Das aber war, wie man sich vorstellen kann, nicht einfach. So sahen wir uns genötigt, wesentlich mehr zu tun. Und überall am Rande dieses Weges mussten einige kleinere Vorhaben aufgegeben werden. Ein guter Teil unserer ausgezeichneten Fähigkeiten kam nie zur Entfaltung, was — ungleich endgültiger und trauriger — für Hunderte von Millionen unserer Zeitgenossen auch der Fall ist.
Auf einem Hügel der ligurischen Küste hat Asger Jorn nun einige alte Häuser ein wenig umgebaut, eingefasst von einem Garten, den er anlegte. Könnte man sich einen friedvolleren Kommentar wünschen? Man sagt uns, wir seien berühmt geworden. Aber eine Epoche, die noch nicht all ihre Möglichkeiten kennt, ist auch weit davon entfernt, die unseren erkannt zu haben. Asger Jorn hat so viel davon fast überall einfließen lassen, dass nur wenige wissen, wie sehr er, mehr als irgendjemand sonst, Situationist gewesen ist, er, der unentwegte Ketzer einer Bewegung, die keine Orthodoxie duldete. Keiner hat wie Jorn zur Entstehung dieses Abenteuers beigetragen: Er fand die Leute quer durch Europa und Unmengen von Ideen, und darüber hinaus wusste er nicht selten, in der unbeschwertesten Not, die dringendsten Schulden, die sich in den Druckereien angehäuft hatten, zu begleichen. Die fünfzehn Jahre, die seit dem Treffen in Cosio d'Arroscia vergangen sind, haben die Welt schon ein beachtliches Stück auf den Weg zur Veränderung gebracht, nicht aber unsere Absichten.
Jorn gehört zu den Leuten, die der Erfolg nicht ändert, die den Erfolg jedoch verändern, in immer neuem Einsatz. Im Gegensatz zu all jenen, die vor nicht allzu langer Zeit ihren Karrierismus auf die ständige Wiederholung eines einzigen kurzatmigen künstlerischen Gags aufgebaut haben, und im Gegensatz zu all jenen, die nun neuerdings vorgeben, sie gründeten ihr umfassendes imaginäres Vermögen einzig auf ihr Bekenntnis zu einem totalen, doch total ungenutzten Revolutionarismus, hat Asger Jorn es sich niemals nehmen lassen, selbst im bescheidensten Maßstab auf allen Gebieten, die ihm zugänglich waren, aktiv zu werden. Früher war er einer der ersten, die eine moderne Kritik der neuesten Form repressiver Architektur formulierten, jener Baukunst, die derzeit die »gefrorenen Wasser des egoistischen Kalküls« mit ihren Heizöllachen überzieht, sodass mittlerweile die näheren Tatumstände überall nach Lage der Akten beurteilt werden können. Und auf seinem italienischen Wohnsitz zeigt Jorn, einmal mehr Hand anlegend, wie jeder, auch was diese konkrete Frage unserer Aneignung des Raums angeht, den Wiederaufbau der Erde um sich herum in Angriff nehmen kann; sie hat es wirklich nötig. Was gemalt und was zu Skulpturen gemacht wurde, die niemals ebenen Treppen im Gefälle des Geländes, die Bäume, die eingebrachten Details, eine Zisterne, Wein, die immer willkommenen Scherben jeglicher Art, hingeworfen in perfektester Unordnung, setzen sich zu der komplexesten Landschaft zusammen, die man auf weniger als einem Hektar durchqueren kann, und die letztlich besser nicht vereint sein könnte. Alles findet hier mühelos seinen Platz.
Wer die konfliktreichen, leidenschaftlichen und aufgrund der bestehenden Kräfteverhältnisse distanziert gebliebenen Beziehungen zwischen den Situationisten und der Architektur nicht vergisst, dem muss das Ganze wie eine Art umgekehrtes Pompeji erscheinen: die Konturen einer Siedlung, die nicht erbaut wurde. Und nicht anders muss man Umberto Gambettas Beitrag verstehen; er hat an jedem Aspekt des Werks mitgewirkt und ergänzt es, wenn nicht um die Kollektivität des Spiels, dem Jorn die Perspektiven einer Überwindung der Trennung von Kultur und Alltag entworfen hat, so doch um ein strenges Minimum davon.
Der Briefträger Cheval, eigentlich eher Künstler, hat ganz allein eine monumentale Architektur errichtet; und der bayrische König verfügte über viel größere Mittel. Jorn skizzierte diese Art Dorf zwischen anderen Projekten und im Vorbeigehen; leider ist es auf so ein kleines Stück »Privatbesitz« beschränkt geblieben, doch es belegt, was man — wie Ivan Chtcheglov (noch einer, der die Basis für die situationistische Bewegung gelegt hat) sagte — mit »ein bisschen Zeit, Glück, Gesundheit, Geld, Überlegung, (und auch) guter Laune« anfangen kann.
An guter Laune hat es jedenfalls nie gemangelt im situationistischen Skandal, Brennpunkt so vieler Brüche und Gewalttätigkeiten, unglaublicher Forderungen und Strategien, die niemand parieren konnte. Wer will, mag seine Gedanken daran verschwenden, was die Geschichte nicht hat sein können, und — nach dem Motto: »Es wäre besser für die Menschheit gewesen, wenn diese Menschen nie gelebt hätten« — für einige Zeit an einem amüsanten Problem herumtüfteln: Hätte man die Situationisten um 1960 nicht befrieden können, mit einem Reformismus, der sie vorausschauend einzufangen wüsste? Hätte man ihnen also nicht besser die Konstruktion von zwei oder drei Städten überlassen, anstatt sie zum Äußersten zu treiben, wodurch sie gezwungen waren, die gefährlichste Subversion, die es je gegeben hat, auf die Welt loszulassen? Aber andere werden dagegen sicherlich einwenden, dass es auf dasselbe hinausgelaufen wäre; wer den Situationisten ein wenig nachgegeben hätte, dem wäre bald verständlich gemacht worden, dass sie sich mit wenig schon nicht mehr zufrieden geben wollten; und so wäre man etwas schneller zum gleichen Ergebnis gekommen.
Guy Debord
[Aus: Asger Jorn, Le Jardin d’Albisola, Turin 1974. Übersetzung aus dem Französischen von Roberto Ohrt. Jungle World Nr. 24, 6. Juni 2001.]